Ekke Maaß

VOM PFARRHAUS IN SCHÖNBURG ZUR SCHÖNHAUSER ALLEE
(aus: Die Ausbürgerung, Ullstein Verlag Berlin, 2001)

Bei uns im Pfarrhaus in Schönburg an der Saale wohnte ein Theologiestudent. Der spielte mir auf dem Tonbandgerät der Gemeinde eine Kopie der Biermann/Neuß-Platte vor. "Jeden Samstag geht der nette, fette Vater..." Ich, damals Schüler, war begeistert! Ja, das wollte ich auch, solche Lieder singen!
1970 begegnete ich dem echten Wolf auf einer Pfefferkuchenparty im Keramikatelier von Leni Menge, der Schwester meiner späteren Frau. Wolf hatte gerade ein Lied von Bulat Okudshawa übersetzt: "Ach, die erste Liebe....Ach, der erste Krieg...Ach der erste Verrat". Wir baten ihn, sing es doch noch einmal, ach, bitte, noch einmal. Wolf sang das Lied für uns hintereinander vier, fünf Mal mit steigender Ausdruckskraft. Ich, der ich seit Jahren Kontakte zu russischen Soldaten und Offizieren hatte und gut russisch sprach, hörte zum ersten mal, daß es in Moskau dissidentische Liederdichter wie Okudshawa und Wyssozki gab, und wußte sofort, die sind wichtig für mich, die muß ich suchen! Ein Jahr später wurde Wolf eine Neujahrsreise nach Moskau kurzfristig abgelehnt. Eine Freundin riet ihm, zu dem Pfarrersohn Ekke Maaß aufs Dorf zu fahren, der könne dort ein Treffen mit Russen organisieren. Und plötzlich war der Kommunist Wolf Biermann für ein paar Tage Gast im evangelischen Pfarrhaus Schönburg/Saale. Mein Vater lehnte den Kommunismus wegen seiner Gottlosigkeit ab und hatte wegen Aufsässigkeit gegenüber der DDR-Obrigkeit und seiner Weigerung an undemokratischen Wahlen teilzunehmen, 1958 ein Jahr im Gefängnis gesessen. Ich saß am Abendbrottisch zwischen den Autoritäten. Mir brach der Schweiß aus als mein Vater die abendliche Andacht mit Gebet, gemeinsam gesprochenem Psalm und Lied anstimmte. Aber Biermann hörte mit Interesse zu.
Ich hatte für ihn zwei - natürlich illegale - Konzerte organisiert, eines vor meiner kompletten Abiturklasse, der Wolf sein Wintermärchen vortrug, und eins vor Freunden und Bekannten aus der Kreisstadt Naumburg, der Dorfbürgermeisterin und russischen Soldaten und Offizieren. Die Abiturklasse ist mir bis heute, nach dreißig Jahren, noch dankbar für diesen schockierenden Abend, der ihnen schon damals die Augen geöffnet hätte. Mit den russischen Offizieren und Soldaten stritt Wolf bis zum Morgengrauen darüber, ob die Partei, die sich nie irrt, in Bezug auf Stalin geirrt habe oder nicht.
Ich besuchte Wolf nun gelegentlich in Berlin, ließ mir Lieder auf der Gitarre zeigen und war froh, wenn da noch ein paar Andere waren und ich den interessanten Gesprächen zuhören konnte. Ich verdanke Wolf viel, vor allem an politischem Wissen. In meinem baltisch-christlichen Pfarrhaus hatte ich so manches über die Geschichte der Deutschbalten erfahren, ihre Fluchten aus Petersburg, Tilsit, Ostpreußen bis nach Mitteldeutschland, aber von den Gräueln der Stalinzeit, dem Hitler-Stalin-Pakt, Solschinizyns Achipel Gulag, dem Samisdat und von wichtigen Momenten der deutschen Arbeiterbewegung hörte ich zuerst bei Wolf Biermann.
Seit 1971 lebte ich trotz einiger Unterbrechungen in Berlin. Als ich von der Ausbürgerung Biermanns erfuhr, das war am Tag der Bekanntgabe in den Medien, einen Tag nach Wolfs 40. Geburtstag, sozusagen ein gehässiges Geburtstagsgeschenk der Partei und Staatsführung der DDR an ihren Dissidenten, war ich vielleicht weniger überrascht als Wolf selbst. Wir hatten diese Möglichkeit vorgedacht und Wolf vor seiner Abreise gewarnt. Aber er hatte geglaubt, die Herrschenden seien so mächtig und könnten ihn immer rausschmeißen, wenn sie es wollten. Nach 11 Jahren Auftrittsverbot konnte er auf das Konzert in Köln nicht verzichten! Mich ergriff eine heftige Aufregung. Ich spürte: Das war zuviel, jetzt wird etwas Wichtiges geschehen, etwas, was auch mit meinem Leben zu tun haben wird. Ich versteckte vorsorglich Wolfs Bücher und Platten beim Nachbarn unterm Bett, küßte Frau und Kinder wie bei einem Abschied auf lange Zeit und fuhr in die Biermannsche Wohnung.
Dort hockten Eva, Tine, Nina und Bylle deprimiert vor dem Fernseher und warteten auf neue Nachrichten zur Ausbürgerung. Erfüllt von revolutionärem Eifer schlug ich vor, sofort einen Text zu verfassen und Unterschriften zu sammeln. Aber außer Nina wollte niemand etwas davon wissen. Eva hielt es für zu gefährlich, später vertraute sie mir an, daß mein Eifer sie gar denken ließ, ich sei ein Provokateur der Stasi.
Ich verfaßte trotzdem einen Text und begann bei Prominenten Unterschriften zu sammeln. Ekkehard Schall rief mir gleich in der Tür zu, er habe bereits unterschrieben. Gisela Mai wollte nicht unterschreiben, sondern mit Erich Honnecker persönlich sprechen, bitte schön!
Inzwischen erfuhr ich in der Biermannschen Wohnung, die ich sicherheitshalber durch den Hintereingang im Hof aufsuchte, daß 13 führende Schriftsteller der DDR, unter ihnen Christa Wolf, Heiner Müller, Stephan Hermlin und Stephan Heym, eine Erkärung veröffentlicht hätten, der wir uns mit unseren Unterschriften am besten anschließen sollten. Die Erklärung, eingeleitet mit einem Marx-Zitat aus dem 18. Brumaire, war überaus freundlich formuliert und enthielt das Bekenntnis zum Sozialismus und zur DDR. Aber es war natürlich klar, daß das die DDR-Mächtigen wenig interessierte. Dabei hätten sie froh sein können über ihre Intellektuellen, die immerhin noch an den Sozialismus glaubten! Dieser Zahn war den russischen Intellektuellen, wie ich später auf meinen Reisen erlebte, bereits in der Stalinzeit blutig gezogen worden. Ich habe dort niemanden gefunden, der mit Marx- und Leninzitaten die Regierung überzeugen wollte.
Ich fuhr also weiter mit meinem alten Fahrrad durch die Stadt, besuchte Maler- und Bildhauerfreunde, u. a. auch Nuria Quevedo, die stolze Exilspanierin, und sammelte Unterschriften, die ich in der Biermannschen Wohnung ablieferte, immer darauf gefaßt, daß die Stasi die Tür öffnet um den anfliegenden Staatsfeind zu schnappen. Nach jahrzehntelangem " Warten auf Godot", dem opportunistischen Achselzucken, der Stagnation, schien es endlich möglich, mit einer großen Zahl von Intellektuellen gegen einen perfiden Akt der DDR-Obrigkeit zu protestieren. Manche, die sich scheinbar auf ewig eingerichtet hatten in der DDR und meinten, sich trotz der Verlogenheit des Systems auf der besseren Seite der Geschichte zu befinden, waren plötzlich gezwungen, sich zu bekennen. Der oppurtunistische Nebel, der bleischwer über der DDR-Gesellschaft lag, riß auf. Und es gab kein zurück, wollte man nicht sein Gesicht verlieren vor der Öffentlichkeit und vor sich selbst.
Armin Mueller-Stahl fragte aus der Dusche, ob denn der Krug unterschrieben hätte... Er wußte offenbar nicht, daß sein Freund und Schauspielerkollege Manfred Krug auch ein enger Freund Biermanns war und über sein Telefon die Erklärung der Schriftsteller und die Namen der Unterzeichner an die Presse durchgegeben wurden.
In diesen Tagen besuchte mich nach ihrer Lesung im Prater die 90jährige Künstlerin Charlotte E. Pauly. Auch sie, eine langjährige Freundin Wolfs, unterschrieb den Protest und wetterte gegen die Methoden der Staatspartei. Das kenne sie alles schon von der Hitlerzeit!
Am 22. Nov. erfuhr ich, daß Jürgen Fuchs, G. Pannach und sieben Studenten in Jena verhaftet worden waren. Robert Havemann wurde von einem gewaltigen Aufgebot von Polizei und Stasi bewacht und durfte sein Haus nicht verlassen, das konnte nun jeder, kommentiert von Herrn Loewenthal, im Westfernsehen mit erleben.
Trotz vieler Freunde und Bekannten fühlte ich mich verlassen ohne Wolf und der Staatsmacht schutzlos ausgeliefert. Mein Bedürfnis nach Rückendeckung führte mich zu Sarah Kirsch, deren Gedichtband "Landaufenthalt" ich liebte. Bis zu ihrer Ausreise hat sie mich maßgeblich unterstützt und bestärkt. Volker Braun empfing mich in seiner Neubauwohnung in der Karl-Liebknechtstraße und zeigte mir stolz seine im Westen erworbene Hegel-Gesamtausgabe. Heute weiß ich, daß er in dem aufdringlichen Philosophiestudenten, der sich als Freund Biermanns vorstellte, unbedingt einen Kontrolleur seiner Partei vermuten mußte und mir mit freundlicher Vorsicht begegnete.
Peter Hacks hatte einen säuischen Artikel über Wolf veröffentlicht. Dort hieß es, Wolf würde sich bei Böll in dem Bett wälzen, in dem sich noch die Läuse Solschinizyns befänden. Die Ausbürgerung sei eine normale Sache wie das Ziehen eines faulenden Zahns. Wir schrieben mit einer Freundin aus Leipzig einen bissigen Artikel gegen Hacks und ließen ihm von Freunden und Bekannten Zahnbürsten schicken. Der Artikel wurde über Carl Corino veröffentlicht, den ich bei Sarah Kirsch kennengelernt hatte.
Peter Hacks wohnte bei mir um die Ecke in der Schönhauser Allee. Mich interessierte die Wirkung unserer Aktion. Ich bat um einen Besuch bei ihm unter dem Vorwand, mich für seine Stücke zu interessieren. Das einzige echte bei Peter Hacks waren die kostbaren mittelalterlichen oder gar gotischen Madonnen, die den Korridor säumten. Die Teekanne goß nicht, nichts stimmte. Ich fragte, wie er die antiken Stücke übersetze, ob er griechisch könne. Nein, das brauche er nicht. Brauchte er ja bei seinem Talent auch wirklich nicht. Als unser hölzernes Gespräch am fernen Horizont das Thema Zahnbürsten streifte, schimpfte er im ND-Stil auf Wolf, so übel, daß ich mich eilig verabschiedete.
Wir hatten natürlich jeden Abend Gäste, diskutierten, debattierten, sangen Wolfs Lieder. Besonders leidenschaftlich muß mein Auftritt in dem Partykeller eines Arztes gewesen sein, denn dieser Auftritt war Anlaß für die Stasi, über mich den Operativen Vorgang "Keller" anzulegen und mehrere Spitzel auf mich anzusetzen. Aber davon erfuhr ich erst beim Lesen meiner Akten bei der Birthler-Gauckbehörde.
Viele meiner weiteren Aktionen geschahen peinlicher Weise nun mit Rat und Tat fleißiger Stasifreunde. Ich tippte die erste Nummer einer Flugschrift "Der politische Leierkasten" mit Texten von Bahro und Biermann und verteilte sie per Fahrrad in den Briefkästen der umliegenden Straßen. Jede Woche lud ich zu Vorträgen und politischen Diskussion ein, vor allem zu Rudolf Bahros Alternative. Man stelle sich vor, dieses Buch von Rudolf Bahro wurde einmal von einem bekannten Schauspieler des Berliner Ensembles, der leider auch bei der Stasi war, ausgeliehen, Seite für Seite abfotografiert, um an den Unterstreichungen meine staatsfeindliche politische Haltung zu beweisen! Ich war damals Philosophiestudent an der Humboldt-Universität und genoß wegen meines Alters und meines Insiderwissens die Achtung vieler Komilitonen. Als nun täglich Schmachartikel gegen die Erklärung der 13 Schriftsteller in den DDR-Zeitungen standen, wollten die noch naiven jungen Philosophiestudenten von mir natürlich wissen, wie denn nun eigentlich die Erklärung laute und wer sie alles unterschrieben habe. Denn Christa Wolf, Hermlin, Müller und Heym waren ja anerkannte Schriftsteller der DDR. Ich hatte die Erklärung und ließ sie von beinah hundert Studenten verschiedener Fakultäten abschreiben. Als ich endlich verpetzt wurde, war es zu spät. Der an der Sektion Philosophie zuständige Mann für die Sicherheit, ein Herr Müller, befahl allen Studenten, die im Besitz einer Abschrift seien, sie abzuliefern. Ich fand das lächerlich, konnte sich doch jeder zuhause so viele Abschriften machen wie er wollte. Später begriff ich, daß es der Stasi nur darum ging, etwas von den Abschreibern in der Hand zu haben, um es, wenn nötig, gegen sie verwenden zu können.
Dann folgten Aussprachen, besser gesagt Verhöre. Immer ich allein gegen die ganze Sektionsleitung: Sektionsdirektor, Stellvertreter für E. u. A. (Erziehung und Ausbildung), Parteisekretär, Sicherheit... Ich stellte mich naiv. Schweren Herzens hatte ich, um keinen formalen Vorwand zu liefern und möglichst lange an der Uni agieren zu können, die Erklärung nicht selber unterschrieben, sondern meinen Bruder unterschreiben lassen. Die Seminargruppe, noch neu und zu wenig im Griff von Partei und Stasi, stimmte hinter meinem Rücken mit sieben zu sechs Stimmen für mein Verbleiben an der Uni.
Doch das sollte sich bald ändern. Ich war als Klassenfeind erkannt, wurde auf Schritt und Tritt überwacht und sollte exmatrikuliert werden, ohne daß noch einmal das Thema Biermann hochgekocht wird. Biermann sollte möglichst totgeschwiegen werden. Ich erhielt auf Anweisung der Leitung schlechte Benotungen, damit ich den Glauben an mich verlöre, fiel durch die leichtesten Prüfungen durch, wurde in den Seminaren angegriffen. Hexentanz und Hölle. Ich wurde verpetzt, als ich Studenten aus Lateinamerika Wolfs Che-Gevara-Lied vorsang, in meiner Wohnung wurde ein winziges Foto Biermanns entdeckt... Schließlich erfuhr ich durch das Ausbleiben des Stipendiums, daß ich, ohne mich noch einmal vor der Studentenversammlung verteidigen zu können, exmatrikuliert sei.
Ich beschwerte mich bei dem Stellvertreter für Erziehung und Ausbildung auf Uni-Ebene, Herrn Prof. Schwanke, einem Naturwissenschaftler, der die wichtigtuerischen Gesellschaftswissenschaftler offenbar nicht leiden konnte und mir versprach, die rechtlichen Dinge durchzusetzen. Ich wurde wieder immatrikuliert, erhielt noch ein ganzes Jahr Stipendium, durfte aber auf Anweisung der Sektion an den Lehrveranstaltungen nicht teilnehmen. Er schlug mir schließlich vor, da ich selbst bei Durchsetzung des formalen Rechts gegen die Sektionsleitung keine Chance hätte, mir eine Arbeitsstelle nach meinen Wünschen zu verschaffen.
Ich hatte inzwischen Bulat Okudshawa kennengelernt, der zwei Wochen nach Wolf Ausbürgerung sein erstes Konzert in der DDR gab, und übersetzte fleißig seine Lieder. Deshalb bewarb ich mich als Lektor beim Verlag Volk & Welt und beim Urheberrechtsbüro. Doch kaum tauchte meine Akte auf, die mich als Biermann Anhänger entlarvte, war es mit meiner Karriere vorbei. Beim Büro für Urheberrechte, wo ich leichtsinnigerweise gleich eingestellt worden war, hatte ich schon drei Tage gearbeitet und das System der Auszahlung von Westhonoraren in Form von Forumschecks usw. durchschauen können, ehe ich, mit dem Gehalt eines ganzen Monats, schleunigst davon gejagt wurde.
Obwohl Mieten und Grundnahrungsmittel in der DDR verhältnismäßig billig waren, war unsere soziale Situation schwierig. Wir hatten zwei süße Kinder, meine Frau kämpfte um ihre Zulassung als Keramikerin, ich arbeitete als Kleindarsteller an Berliner Theatern, trat mit Okudshawa- und manchmal heimlich Biermannliedern in kirchlichen Gemeinden und Jugendklubs auf. Ohne offizielle Arbeit galt man nach den neuen Honneckerschen Gesetzen als asozial und konnte bestraft werden. Eine Einstufung als Liedersänger, um die mich ich zäh bemühte, wurde auf Weisung der Stasi lange Zeit verhindert, ich vom Kulturministerium monatelang hingehalten. Schließlich entdeckte ich durch Zufall die Lücke im Gesetz und wurde freischaffend als literarischer Übersetzer, das war die einzige Möglichkeit, eine Steuernummer zu erhalten, ohne Nachweise von Künstler- und Schriftstellerverbänden, Theatern oder irgendwelche Einstufungen der Konzert- und Gastspieldirektion vorweisen zu müssen. Dazu kam das Grenzleid. Die deutsche Grenze war nach und nach durch unsere Familie gewachsen, mein ältester Bruder, der die Biermannpetition für mich unterschrieben hatte, verlor seine Stelle als Physiker an der Akademie der Wissenschaften und wartete auf die Genehmigung seines Ausreisantrages, meine Eltern, die nach der Emeritierung meines Vaters 1973 die DDR verlassen hatten, durften nicht mehr einreisen. Das war bitterer als die politische Bedrohung, die wie durch ein Wunder bisher nicht zu meiner Verhaftung geführt hatte. Dabei verbreitete ich unentwegt Wolfs Lieder, bevorzugt auf Bahnfahrten, wo ich immer ein Abteil mit netten Leuten fand, die erstaunt waren, daß die schönen Lieder, die ich ihnen sang, von Wolf Biermann stammten. Oft war mein Eisenbahnpublikum so begeistert, daß sie für mich Auftritte in ihren Betrieben, Gemeinden, Bibliotheken oder Clubs organisierten und ich wieder ein Stück weit überleben konnte.
Wolf war nun weg und mit ihm seine Wohnung, in der ich so viele interessante Begegnungen und Gespräche erlebt hatte. Der Abschiedsabend in den leeren Zimmern, mit Käthe Reichel und wenigen alten Freunden, besiegelte das Ende mit dem Wachs der Kerzen, die an den Wänden flackerten. Einmal hatte ich hier Biermanns große Geburtstagsparty erlebt, mit Bananenfleisch, das ich zubereiten half, mit Emma, seine Mutter, die sich in der Küche über überflüssige alte Kupfertöpfe ärgerte, mit Manfred Krug, der mit Wolf Porgy and Bess sang, mit Schauspielern, Dichtern, Künstlern und einfach Freunden, Klempnern, Kohlenträgern, und Wolfs Sportfreunden, die ihm einen Tauchanzug schenkten.
Ich hatte schon in meiner Kindheit im Pfarrhaus literarisch-musikalische Abende für russische Soldaten und Offiziere organisiert und besaß Talent für Gesellschaften, das hatte bei meinen deutsch-baltischen Vorfahren ein lange Tradition. Ich suchte nach einer Möglichkeit, die offene Athmosphäre der Biermannschen Wohnung, die Begegnungen von schöpferischen Menschen, fortzusetzen. Im März 1978 gelang es mir, in eine große, dunkle und kalte Parterre-Wohnung zu tauschen, die ideal für Veranstaltungen war. Hier fand gleich mein erstes öffentliches Okudshawa-Konzert statt, welches im Museum für Deutsche Geschichte plötzlich verboten und das Publikum zu uns umgeleitet wurde.
Zunächst sporadisch, ab September 1979 regelmäßig, organisierte ich nun Lesungen für Autoren, die in der DDR in irgendeiner Form Schwierigkeiten hatten. Weil sich nach dem Weggang vieler Schriftsteller und Künstler, unter ihnen G. Kunert, Sarah Kirsch, ach, viele, Schriftsteller wie Christa Wolf, Franz Fühmann und Heiner Müller für die neue Künstlergeneration interessierten, wurden die Lesungen schnell bekannt, die Wohnung mit der anliegenden Keramikwerkstatt meiner Frau zu einem der wichtigsten Treffpunkte der sogenannten Dichter- und Malerszene vom Prenzlauer Berg, in der auch fast alle russisch-sowjetischen Schriftsteller am Tisch saßen, Tschingis Aitmatow, Jewtuschenko, Andrej Bitow und natürlich Bulat Okudshawa. Und als endlich nicht weit von uns, an der Bornholmer Brücke, die Grenze aufging, war auch Wolf wieder da...Nicht für immer, seine Versuche, sich in Berlin anzusiedeln verliefen unglücklich, aber immer wieder und hoffentlich bald mal wieder.